In der Schule werden Stücke wie Wilhelm Tell oder Michael Kohlhaas nicht besonders gemocht. Dabei hat Kleist eine Geschichte veröffentlicht, bei der es sich um eine klassische Origins-Story von Schurken und Helden handelt.
Eine Ungerechtigkeit hat dramatische Folgen
Ähnlich wie Batman oder Wolverine könnte man die Inhaltsangabe von Michael Kohlhaas in einer spannenden Origins-Reihe zusammenfassen. Ein braver und frommer Bürger, der in Brandenburg lebt, will seine Pferde verkaufen. Auf der Reise nach Sachsen, wo er die wunderschönen Rappen anbieten möchte, wird er vom Burgvogt des Junkers Wenzel von Tronka aufgehalten. Angeblich, weil er keinen Passierschein besitzt, soll Kohlhaas einen Pfand in Form zweier Reittiere hinterlassen. Guten Glaubens tut der brave Bürger, wie ihm geheißen. Einer seiner treuen Knechte soll bei den Tieren bleiben und für ihr Wohlergehen sorgen.
Erst in Dresden wird klar, dass der Junker überhaupt keine Berechtigung hatte, ein Pfand zu verlangen und gar kein Passierschein erforderlich war. Erbost über diese Willkür verkauft Michael Kohlhaas seine anderen Pferde wie geplant und will sein hinterlegtes Pfand samt Knecht auf dem Rückweg zurückholen. Die beiden Rappen haben aber keine Ähnlichkeit mehr mit den stolzen und wohlgenährten Tieren, die er hinterlassen hat. Auf Befehl des Junkers wurde zunächst der treue Knecht verjagt, anschließend setzte man die wertvollen Tiere zur Feldarbeit ein, wo sie aufgrund von Misshandlungen und schlechter Ernährung schnell abmagerten und erkrankten. Ihr Besitzer ist entsetzt und überlässt die nun völlig wertlosen Arbeitspferde dem Junker. Vor Gericht will er jedoch Schadensersatz erstreiten.
Da sich das Gericht in Dresden und somit im Einflussbereich der Familie von Tronka befindet, scheitert die Klage. Sein eigener Landesherr, der Kurfürst von Brandenburg, hilft ihm ebenfalls nicht weiter, weil der Junker einen guten Draht zu den Beratern des Fürsten hat, die Kohlhaas den direkten Zugang verweigern.
Video: Heinrich von Kleist – Michael Kohlhaas
Der Tod der Frau ändert alles
Lisbeth, die Frau des Protagonisten, macht sich daraufhin persönlich auf den Weg zum Kurfürst Heinrich, um ihm in einer Bittschrift die Sachlage zu verdeutlichen und um Gerechtigkeit für ihren Mann zu fordern. Noch bevor sie das Papier übergeben kann, wird sie bei einem durch die Schlosswache verursachten Unfall schwer verletzt und stirbt schließlich. Die Bittschrift erreicht den Kurfürsten Heinrich nicht. Schlimmer noch: Durch den persönlichen Verlust seiner geliebten Frau erreicht der Zorn des vormals braven Bürgers die kritische Masse und er dreht regelrecht durch. Seinem Racheschwur folgend, sammelt er seine treuen Knechte um sich und zieht gewaltsam gegen den verhassten Junker ins Feld. Er brennt dessen Schloss nieder und tötet persönlich einen der Verwandten des Erzfeindes. Von den sonstigen Bewohnern kommt auch keiner mit dem Leben davon, lediglich Wenzel von Tronka selbst schafft es, in ein Kloster zu entkommen.
Michael Kohlhaas veröffentlicht überall in Sachsen die Forderung, dass man ihm den Junker auszuliefern habe und droht mit schwersten Konsequenzen. Er vergrößert seine Gefolgschaft, denn längst geht es nicht mehr nur um seine eigene Rache, sondern um den Widerstand gegen die Willkür der Obrigkeit – Erfahrungen, die viele seiner Anhänger ebenfalls gemacht haben. Im Kloster Erlabrunn erfährt er, dass sich der Junker nicht mehr dort aufhält und inzwischen nach Wittenberg geflüchtet ist. Dorthin begibt sich Michael mit mehr als dreißig Mann, unter ihnen kampferprobte Söldner, die er unterwegs angeheuert hat. In Wittenberg fühlt man sich dem Gastrecht verpflichtet und verweigert die Auslieferung des Gesuchten, was die Kohlhaas-Truppe mit dem Niederbrennen großer Teile Wittenbergs quittiert. Um weiteren Schaden von der Stadt abzuwenden, versucht man ein Täuschungsmanöver und macht den Angreifern vor, dass der Junker nach Leipzig in die Pleißenburg geflüchtet sei. Sofort lässt er von Wittenberg ab und begibt sich nach Leipzig.
Ein Cameo-Auftritt von Luther
Natürlich versucht man in Sachsen, die marodierende Truppe aufzuhalten. Die schnell zusammengerufenen Kräfte haben aber keine Chance, denn der vor Zorn tobende Marodeur lässt jeden niedermetzeln, der sich ihm in den Weg stellt. Nur der einsetzende Regen bewahrt Leipzig davor, niedergebrannt zu werden. Schließlich hat auch eine bekannte historische Persönlichkeit einen Gastauftritt in der Geschichte, denn Martin Luther persönlich wendet sich in einem Aufruf an Michael, der den Reformator eigentlich verehrt. Luther verkündet, dass sich Kohlhaas im Unrecht befinde und die Gebote Gottes zu respektieren habe. Um ihn auf seine Seite zu ziehen, verkleidet sich Michael und sucht Luther persönlich auf, der sich daraufhin tatsächlich beim sächsischen Kurfürst für ihn einsetzen will.
Allerdings will er ihn nicht von seinen gebeichteten Sünden freisprechen, da Kohlhaas dem verhassten Junker Wenzel von Tronka noch immer nicht vergeben will. Aus politischen Gründen lässt sich der Kurfürst darauf ein, dem Aufständischen und seinen Truppen freies Geleit nach Dresden zuzusichern, wo der Junker vor Gericht gestellt werden soll. Damit gibt sich Michael zunächst zufrieden und löst seine Kampfeinheit auf. Allerdings setzen einige seiner Gefolgsleute in seinem Namen die Gewalt fort. Sie morden und rauben Unschuldige aus, was die an sich günstige Stimmung für das Anliegen von Kohlhaas im Volk kippen lässt. Die mit dem Junker verwandten Berater des Kurfürsten nutzen diesen Umschwung zur erneuten Beeinflussung und lassen die Amnestie für nichtig erklären. Sie locken Michael in eine Falle, als er auf das gefälschte Angebot eines Knechts eingeht, ihn aus der Gefangenschaft zu befreien.
Showdown mit dem Schicksal
Der brandenburgische Kurfürst setzt sich jetzt für einen fairen Prozess gegen seinen Bürger ein, doch mittlerweile hat der sächsische Gegenpart Klage am kaiserlichen Hof in Wien erhoben. Er ändert seine Meinung nochmals, weil er von einem mystischen Amulett erfährt, das sich im Besitz des Angeklagten befindet und welches den Untergang des sächsischen Kurfürstengeschlechts prophezeit. Um in den Besitz dieser Prophezeiung zu gelangen, will er mit Michael Kohlhaas einen Deal aushandeln und zieht die Klage in Wien zurück.
Der Beklagte lehnt dies jedoch ab und wird schließlich zum Tode verurteilt. Das Papier mit der Prophezeiung isst er vor den Augen des Fürsten kurz vor der Hinrichtung auf, um ihm jede Chance zu nehmen, den genauen Inhalt zu erfahren. Noch bevor er hingerichtet wird, hört er, dass der Erzfeind Junker Wenzel von Tronka dazu verurteilt wurde, die Gesundheit der Rappen wiederherzustellen und zwei Jahre in Haft verbringen muss. Dies ist für Michael Kohlhaas absolute Genugtuung und er stirbt in dem Wissen, dass der Kampf für seine Sache erfolgreich war.
Recht, Rache und Legendenbildung
Diese Inhaltsangabe zeigt die Dramatik der eigentlich banalen Geschichte um einen Pferdehändler, der von einem Beamten um sein Recht betrogen wird. Eine Geschichte, wie sie jeder Bürger irgendwie nachvollziehen kann, der sich durch einen amtlichen Bescheid oder einen anderen Verwaltungsakt je benachteiligt fühlt. Doch während die meisten Bürger nach Beschreiten des Rechtsweges (auch, wenn er erfolglos bleiben sollte) mit dem Verlust arrangieren, hat Michael Kohlhaas eine wichtige Grenze überschritten. Die in seinen Augen ungerechte Behandlung nimmt er als Rechtfertigung für Selbstjustiz und Gewalt und der Tod seiner Frau lässt ihn jedes Maß verlieren.
Obwohl er zunächst mit einigen Sympathien im Volk rechnen kann, entwickelt er sich zu einem regelrechten Terroristen, der mordet und brandschatzt – und der irgendwann die Kontrolle über Teile seiner Anhänger verliert. Selbst nachdem er den Kampf eingestellt hat, morden sie weiter und zeigen, wozu Selbstjustiz in der Konsequenz führt: Zu weiterem Unrecht. Am Ende beugt er sich der Verurteilung zum Tode, weil in seinen Augen der Gerechtigkeit Genüge getan wurde. Heinrich von Kleist unterstreicht mit zahlreichen Textstellen, dass Michael Kohlhaas kein verklärter Held der Massen wie Tell oder Robin Hood ist, sondern einer, der das rechte Maß verloren hat. Auch das ist typisch für moderne Legenden, wie wir sie im Kino immer wieder sehen können.
Würde man ihn in die heutige Zeit transportieren, wäre der Stoff um Michael Kohlhaas sicherlich perfekt dazu geeignet, die Entstehung, den Aufstieg und Fall eines vermeintlichen Freiheitskämpfers und Terroristen zu zeigen. Vermeintlich deshalb, weil es ihm letztlich immer nur um sein eigenes Anliegen ging und nicht darum, allen Menschen mehr Gerechtigkeit angedeihen zu lassen. Und genau das unterscheidet Recht von Rache, wie die Novelle von Kleist in einem einfachen Satz zusammengefasst werden kann.
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